Für die meisten Menschen, insbesondere technisch versierte SchülerInnen und StudentInnen, sind Film- und Videoinhalte gleichermaßen allgegenwärtig wie leicht zu erstellen. Daher kann die Bedeutung dessen, was uns der Film an historischen Momenten zeigt, leicht übersehen werden. In den 1930er Jahren war das Filmen eines Ereignisses teuer und zeitaufwändig und geschah aller Wahrscheinlichkeit nach in einer bestimmten Absicht. Aus diesem Grund müssen wir uns als ZuschauerInnen fragen, was von wem und warum dokumentiert wurde, wenn wir Filme aus früheren Jahrzehnten betrachten.
Die historischen Aufnahmen von „Bronia und Gerhard“ in der Ausstellung Einige waren Nachbarn zeigen, wie Erwachsene, Jugendliche und Kinder an der öffentlichen Demütigung eines jungen Paares teilnehmen, weil sie eine deutsch-polnische Beziehung führten. In unserem Bildungsprogramm ermutigt das Betrachten und Diskutieren dieses Filmmaterials die Gruppe, das Verhalten und die Handlung des Films in seinem historischen Kontext zu bewerten. Den SchülerInnen und StudentInnen wird langsam bewusst, dass, obwohl einige DorfbewohnerInnen nicht aktiv an der Demütigung teilnahmen, sie in Wirklichkeit aber auch keine passiven Zuschauer, sondern ein integraler Bestandteil eines öffentlichen und koordinierten Spektakels waren.
Das Filmmaterial
Die 16-jährige Bronia war eine polnische Zwangsarbeiterin in Deutschland. Der 19-jährige Gerhard war ein sogenannter deutscher - in der NS-Sprache "arischer" - Feldarbeiter und arbeitete auf demselben Bauernhof. Nachdem ihre nach NS-Rassevorstellungen verbotene Romanze entdeckt wurde, wurden sie von BewohnerInnen des Dorfes einer öffentlichen Demütigung ausgesetzt, die in diesem Filmmaterial gezeigt wird. Als Strafe wurde Gerhard an die sowjetische Front und Bronia in ein Konzentrationslager geschickt. Das Schicksal von Bronia ist unbekannt, wahrscheinlich aber überlebte sie nicht. Gerhard starb 1945 an seinen Verwundungen, die er an der Ostfront erlitten hatte.
Das Filmmaterial zeigt, wie das Paar von StadtbewohnerInnen – Männern, Frauen, Jugendlichen und Kindern – umringt ist, während sie die Straße hinuntergeführt werden. Viele der Kinder spielen Instrumente, was auf eine festliche Atmosphäre hindeutet. Man kann auch von einer Demütigungsprozession sprechen. Die Mehrheit der DorfbewohnerInnen ist gut gekleidet – viele Männer tragen einen Anzug. Wenn wir uns diese Szene heute ansehen und wissen, dass Dreharbeiten in dieser Zeit normalerweise sehr zweckgerichtet waren, fragen wir uns unwillkürlich „Welche Rolle spielt die Menge hier?“ und auf einer tieferen, analytischeren Ebene „Welchem Zweck dient es, diese Handlungen öffentlich zu machen und ein solches Spektakel zu veranstalten?“
Nach einem kurzen Marsch hält die Gruppe an. Ein Mann schneidet Bronia und Gerhard die Haare und lässt nur einen Haarbüschel oben auf dem Kopf übrig, der gepudert und in die Form eines Schwanzes gebracht wird. Die Leute in der Menge lachen und reden, aber niemand kommt, um dem Paar zu helfen. Dennoch sagt Bronia zu Gerhard (laut Lippenleserin): „Du musst dich nicht schämen. Du nicht.“
Wir können nicht mit Sicherheit sagen, wer die Haare geschnitten oder den Film gedreht hat. Obwohl dies anscheinend nur ein kleiner Aspekt ist, wirft das Wissen, dass Filme, Ausrüstung und das Entwickeln von Filmen damals teuer und zeitaufwändig waren, die Frage auf „Warum wurde dieses Material aufgenommen?“.
Weitere Fragen können zu Gesprächen anregen und den TeilnehmerInnen dabei helfen, die im Filmmaterial dargestellten Nuancen zu sehen. Wie kam heraus, dass die beiden ein Paar waren? Welche Beziehung hatten sie zu den DorfbewohnerInnen? Hat sie jemand vor der Filmaufnahme verteidigt oder sich für sie eingesetzt? Welche Gespräche fanden in der Menge statt? Wie wurde das den anwesenden Kindern erklärt? Welche Vorurteile und Denkweisen waren in dieser Gemeinschaft vorherrschend?
Reflexion
Wir schlagen vor, dass die ModeratorInnen die Teilnehmenden vor dem Betrachten der Aufnahmen dazu auffordern, über den historischen Kontext nachzudenken und über ihr Verständnis des Holocaust zu reflektieren. Fragen Sie beispielsweise die TeilnehmerInnen: „Wie war Ihrer Meinung nach der Holocaust möglich?“. Während die Antworten in Bezug auf Einzelheiten, Genauigkeit und Verständnis variieren können, bringt diese Art von Fragen sowohl die Wahrnehmungen als auch die Vorstellungen, die sie haben, zum Vorschein.
Wenn die Teilnehmenden sich das Filmmaterial ansehen (oder es sich noch einmal ansehen), entstehen andere Fragen, die das Gespräch anleiten können:
- Die Veranstaltung sollte öffentlich sein und wurde für ein Publikum inszeniert. Welche Rolle spielten die verschiedenen Beteiligten? Wer ist Ihnen besonders aufgefallen?
- Was haben Sie bei den Ereignissen im Zentrum der Szene und den Reaktionen und Aktivitäten der Menge am Rand beobachtet?
- Auf welche Weise hätte dieses Ereignis der Gemeinschaft “dienen” können?
Die Zuschauer sind oft erstaunt über das, was sie in den Aufnahmen sehen. SchülerInnen und StudentInnen kommentierten, dass sie sich beim Ansehen unwohl fühlen und einige haben Schwierigkeiten zu glauben, dass das Geschehen genau wie gezeigt stattgefunden hat. Es widerspricht den Vorstellungen von NachbarInnen und Gemeinschaft und legt die Ebenen der Mittäterschaft und Beteiligung offen.
Durch die Schaffung dieser kognitiven Dissonanz bietet das Filmmaterial den TeilnehmerInnen einen fruchtbaren Boden, ihre Vorstellungen über den Holocaust und die Rolle der gewöhnlichen Menschen darin zu überdenken und im Gegenzug offener für die Themen zu sein, die in der Ausstellung Einige waren Nachbarn präsentiert werden.