Die TeilnehmerInnen lernen, Fotografie als Informationsquelle zu sehen, die kritisch untersucht werden muss. Hier beschreiben wir am Beispiel eines Fotos aus der Ausstellung, wie dieser Ansatz in unserem Bildungsprogramm angewendet werden kann.
„Zwei Blickwinkel“
Auf jedem Foto, egal welche Szene dargestellt wird oder wie viele Personen porträtiert werden, sind immer zwei weitere Personen anwesend: FotografIn und BetrachterIn. Durch das Miteinbeziehen der Intention der Fotografin ist es zu einem gewissen Grad möglich, etwas über ihre Perspektive und Weltanschauung zu erfahren. Indem wir unsere eigene Position von der des Fotografen unterscheiden, sind wir möglicherweise besser in der Lage, die einzelnen Positionen kritisch zu betrachten.
Wenn wir uns ein Foto ansehen, sehen wir durch die Linse der Fotografin und wir teilen ihren Blickwinkel. Wir sehen nicht direkt in die Vergangenheit wie durch ein Zeitfenster, sondern wir sehen den Standpunkt eines anderen Menschen, der an diesem Ort und in dieser Zeit lebt, ein Standpunkt, der durchdrungen ist von ihren Ideen, Einstellungen, Gedanken und Sorgen.
Das erste, was wir fragen müssen, ist also nicht, was wir sehen, sondern was der Fotograf gesehen hat, und warum das wichtig genug war, um auf den Auslöser der Kamera zu drücken. Warum genau diesen Moment auf genau diese Weise festhalten? In den 1930er und 1940er Jahren wurden Kameras immer kleiner und handlicher, und die Massenproduktion machte sie günstiger und einem breiteren Publikum verfügbar, aber dennoch war Zeit, Sorgfalt und ein gewisses Fachwissen notwendig, um sie zu bedienen. Jede Filmrolle musste gekauft werden und hatte nur eine begrenzte Anzahl von Aufnahmen, und die Bearbeitung des Films kostete Geld, sodass jedes Foto eine bestimmte Absicht hatte: Jedes Mal, wenn jemand ein Foto machte, war es wichtig.
Bildanalyse
Wir sehen eine Skifahrerin und ein Landhaus, und der Bildaufbau ist so, dass die Frau im Vordergrund vom Tor eingerahmt wird. Das Schild besagt, dass sie sich an einem bekannten See in Berlin befindet, an einem Erholungsort einer Frauenorganisation, die sich der Bekämpfung des Alkoholismus verschrieben hat. Dies stellt sie in einen Kontext, der dem Bild Bedeutung verleiht.
Lassen Sie uns mit der Gruppe spekulieren – was für eine Art von Foto glauben wir, ist das? Scheint es eine Momentaufnahme der Frau zu sein, eine offizielle Dokumentation des Ortes, ein Propagandabild, ein Bild, das für eine Zeitung gemacht wurde? Wer hätte es vielleicht aufgenommen, und welche Art von Atmosphäre ruft es hervor?
Vielleicht wurde es von einer Freundin oder einer Kollegin gemacht, die das Landhaus für einen Wochenendausflug oder einen Arbeitsaufenthalt genutzt hat? Das ist natürlich eine Vermutung, aber wir ziehen unsere Schlüsse aufgrund der Ähnlichkeit mit anderen solchen Bildern, und denken vielleicht an Fotos, die wir selbst gemacht haben. Es ruft eine angenehme Atmosphäre von Freizeit und Entspannung hervor.
Nachdem wir die Absicht der Fotografin oder des Fotografen berücksichtigt haben, können wir fragen, ob wir die gleichen Interessen haben wie die Person, die das Bild aufgenommen hat. Was finden wir bemerkenswert und relevant auf dem Foto? Wir fordern unsere Gruppe auf, etwas genauer hinzuschauen, und vielleicht wird die Aufmerksamkeit auf ein kleines Schild gelenkt, das an der oberen rechten Ecke des Tores angebracht ist und auf dem steht: „Juden nicht erwünscht“.
Dieses Schild assoziiert eine ansonsten angenehme Szene mit der Androhung gesellschaftlicher Gewalt, die kaum wahrgenommen und doch explizit genannt wird. Doch für die Fotografin oder den Fotografen und die Frau auf dem Foto scheint dies wenig interessant zu sein. Und das macht das Bild so ergiebig für Diskussionen – der radikale Unterschied in der Art, wie wir die Szene verstehen und wie sie damals gesehen wurde:
- Wie illustriert das Vorhandensein dieses kleinen Schildes die Kluft zwischen damals und heute?
- Was bedeutet das für die Art und Weise, wie wir die Menschen sehen, die in dieser Szene anwesend sind, zu dieser Zeit leben?
- Wie positioniert es sie in Bezug auf die Taten des Nazi-Regimes?
- Was bedeutet es, dass ein solches Schild fast unsichtbar geworden zu sein scheint?
- Was können wir aus dieser Analyse über die Rolle, Verantwortung und Mittäterschaft gewöhnlicher Menschen bei der Verfolgung ihrer jüdischen Nachbarn lernen?
Vertiefung der Analyse – Nachdenken über einen dritten Blickwinkel
Die Bildunterschrift dieses Fotos gibt die Interpretation – den „Blick“ – der Kuratorin preis. Die Bildunterschrift steht in krassem Kontrast dazu, dass das Haus von Frauen geführt wurde, die sich gegen Alkoholismus einsetzten: „Frauen, die sich für die Bewältigung eines ernsten sozialen und gesundheitlichen Problems eingesetzt haben, unterstützten gleichzeitig die Verfolgung von Juden.“
Die Kraft dieser Gegenüberstellung entstammt der Kluft zwischen unserer Situation und Perspektive und derjenigen der Menschen, die damals lebten: Wir sehen diese beiden Tatsachen in auffallendem Widerspruch zueinander. Dies bietet Anlass für eine Gruppendiskussion. Was sollen wir davon halten? Vielleicht wird die Gruppe zu dem Schluss kommen, dass es für „gute Menschen“ möglich ist, schlechte Dinge zu tun, aber dann bleibt die Frage: Wie erklären wir das?
Warum sollten „gewöhnliche Menschen“ – in diesem Fall Frauen, die sich der Bekämpfung des Alkoholismus widmen – Jüdinnen und Juden als in ihrer Gemeinschaft „unerwünscht“ betrachten? Vielleicht ist dieser Kontrast nicht so auffallend, wie er aus unserer heutigen Sicht erscheint – wir müssen das Foto im Kontext seiner Zeit sehen.
Jüdinnen und Juden wurden von einigen auch als „ernstes soziales und gesundheitliches Problem“ für die Volksgemeinschaft angesehen. So wie Alkoholismus eine Frage der öffentlichen Gesundheit war, so wurden jüdische Menschen damals als Bedrohung für die „Rassenhygiene“ und damit für die Gesundheit der Nation empfunden. Da Jüdinnen und Juden in der Nazi-Ideologie allgemein als „die Ursache all unseres Unglücks“ denunziert wurden, wurden sie dieser Propaganda zufolge als Teil der Ursache des Alkoholismus angesehen. Juden wurden in der Nazi-Ideologie als Vertreter der Moderne verunglimpft, die einherging mit einer schnellen Urbanisierung des Stadtlebens und die von den manchen als Bedrohung oder gar als „Entartung“ postuliert wurde.
Vielleicht ermöglichte diese Ansicht den Frauen, die Judenverfolgung zu unterstützen und dabei trotzdem eine positive Meinung ihrer eigenen Moral zu bewahren, die Vorstellung, dass sie eigentlich Gutes tun wollen. Wenn dem so ist, obwohl das kleine Schild an ihrem Eingang überhaupt nicht zum Thema des Bildes gehörte, bleibt es für uns heute im Zentrum: Der Antisemitismus hat diese Gesellschaft so durchdrungen, dass das Schild zwar nur einen sehr kleinen Teil des Fotos abdeckt, aber gleichzeitig seine Bedeutung den Rahmen füllt und über ihn hinausreicht.
Ein genozidaler Akt?
Bitten Sie die Gruppe diese Gedanken mit einzubeziehen. Was bedeutet die Szene auf diesem Foto dann für die Rolle und Mittäterschaft gewöhnlicher Menschen im Holocaust? Was bedeutet es, solche Schilder anzubringen und sie in der Gesellschaft als normale, akzeptable, ja sogar positive Botschaften zu betrachten? Welche neuen Möglichkeiten eröffnen sie, wenn solche Maßnahmen ergriffen werden, um weitere – noch radikalere – Maßnahmen zu ergreifen?
Diese Schilder, die bereits 1935, lange vor dem Bau des ersten Vernichtungslagers oder der ersten Gaskammer, in ganz Deutschland aufkamen, weisen auf die Zerstörung hin und enthalten die wesentliche Bedeutung des kommenden Völkermords: Die Schaffung eines Raums ohne Jüdinnen und Juden.
Inwieweit können wir zwischen den Zeilen auf diesem kleinen Schild schon die Namen von Vernichtungslagern wie Belzec, Sobibor, Treblinka und Auschwitz-Birkenau lesen?